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Wohnqualität in verdichteten Siedlungen: beengt oder befreit?

Eine Schweiz mit 11 Millionen Einwohnern – von diesen Werten gehen Planer und Statistiken im Jahr 2045 aus – stellt Städte und Gemeinde vor grosse Herausforderungen. Bereits heute lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Zentren und bis zum Jahr 2050 wird dieser Anteil Prognosen zufolge auf 70 Prozent steigen. Ein Nährboden für den Begriff des «Dichtestresses», ein Schlagwort, das im Jahr 2014 gar zum Unwort des Jahres gewählt wurde.  Die nach innen gelenkte Siedlungsentwicklung löst in so manchen Köpfen ein negativ konnotiertes Bild aus. Führen verdichtete Siedlungen zu einem belebenden Quartiersgefühl oder beengen sie die Wohnqualität? Wie viel Dichte verträgt der Mensch und wann wird aus Dichte Enge?

Jeder hat ein anderes Bild vor Augen, wenn der Begriff einer verdichteten Siedlung fällt. Während einige durchaus schöne, belebte Quartiere sehen, fühlen sich Andere bereits durch den Gedanken beengt. Jeder kennt die engen Hochhäuser von Hongkong, wo jeder Mensch knapp neun Quadratmeter Wohnfläche zum Leben hat. Verdichtet Bauen aka Hongkong in der Schweiz – auf keinen Fall. Dabei ist das Ziel des verdichteten Bauens nicht, die Identität der Umgebung kleiner, beengten Wohnflächen hinzugeben, wo man in einem Raum schläft, isst und kocht. Dass verdichtete Quartiere auch einen lebenswerten Lebensraum schaffen, zeigt sich unter anderem auf dem Richti Areal in Wallisellen, wo aus einer Industriebrache ein attraktives Quartier mit gemischter Nutzung entstand. Durch den direkten Anschluss an die Glattalbahn sowie der vielfältigen Nutzungen wurde das Areal ein attraktiver Wohn- und Arbeitsort.

Wichtig ist die optimale Dichte, nicht jedes Quartier mag dieselbe Anzahl an Bewohner ertragen. Des Weiteren braucht es Vielfalt mit verschiedenen und passenden Nutzungen. Freiräume spielen eine wichtige Rolle, verdichtet Wohnen heisst nicht nur einen kahlen, hohen Wohnblock zu errichten, sondern einen sozialen Treffpunkt zu erschaffen. Eine verdichtete Siedlung ist also theoretisch ein rundum Paket mit Wohn- und Erholungsraum, Einrichtungen zur Versorgung im Alltag und Arbeitsfläche. In einem Land wie der Schweiz, wo die Einwohnerinnen und Einwohner in immer grösseren und luxuriöseren Wohnungen leben wollen, ist es eine besondere Herausforderung, den immer knapper werdenden Raum so zu nutzen, dass Lebensqualität möglich ist. Dabei ist die Lebensqualität ein subjektiv bewerteter Begriff. Kann da ein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden?

 

 

 

Verdichtung fängt beim Lebensstil an

Lebenswerte Siedlungen und verdichtetes Bauen müssen keine Gegensätze sein. Wie wir mit Dichte umgehen, wird durch individuelle Faktoren, den Eigenschaften der Mitmenschen sowie den Umweltbedingungen beeinflusst. Begegnungszonen fördern die soziale Interaktion und Grünflächen verbessern die Lebensqualität. Die direkt betroffenen Anwohner und Eigentümer von geplanten Siedlungen müssen in den Prozess aktiv und frühzeitig eingebunden werden. Denn verdichtet Bauen bedeutet auch eine gewisse Angst vor Verlust. Nimmt mir das neue Haus gegenüber die Sicht oder reduziert die Sonnenstunden in den Räumen? Brauche ich morgens zehn Minuten länger auf den Strassen oder bekomme ich im Bus keinen Sitzplatz mehr? Verliert meine Immobilie an Wert? Verändert sich unser Dorfcharakter? Um sich dem verdichteten Wohnen hinzugeben, müssen wir unseren Lebensstil anpassen. Wenn wir gegenüber einem neuen Lebensstil offen sind, kann dies für uns unerwarteten Zuwachs an Lebensqualität durch Gemeinschaft bedeuten. Clusterwohnungen und Gross-Wohngemeinschaften sind dabei schon heute umsetzbare architektonische Hüllen für Lebensstile, die in Zukunft wichtiger und nachgefragter werden.

 

Coronavirus und die Verdichtung

Wie eine Studie der Hochschule Luzern und dem Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) zeigt, hatte die Coronapandemie einen massgeblichen Einfluss auf das wohnliche Empfinden. Das Verlangen nach städtischen Funktionen in den eigenen Quartieren und Agglomerationen wurde stärker, und das neue Bild vom Arbeitsplatz wird infrage gestellt, sodass es deshalb neue räumliche Konstellationen braucht. Ebenso wurden dem nachbarschaftlichen Umfeld und dem sozialkulturellen Engagement grösseren Wert beigemessen.

city
Autorin: Sabrina Tanner
Bildquelle: Fotografie „Dear Chicago You’re Beautiful“ vonSilken Photography Swissbau „Qualitätsvolle Verdichtung fängt beim Lebensstil an und damit beim Grundriss“
RAUM & UMWELT September 3/2015 „Siedlungen hochwertig verdichten“
HIG „Wer hat hier eigentlich Stress mit Dichte?“
Swissbau „Focus: 10-Millionen-Schweiz – Neue Chancen oder Dichtestress“?
Arkadium AG

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